Oh du guter Heinrich
🌞 18.06.2024
Mausohren
Rot leuchten die jungen Fichtenzapfen. Schmetterlinge sitzen auf den kurz gestielten Blüten des Mausohr-Habichtkrauts. Mit seinen Blättern sind Quadratmeter um Quadratmeter des Pistenrandes überzogen. Die einen grün, die andern dunkelrot überlaufen. Schutz vor der Sonne, die hier oben oft gnadenlos brennt. Deutlich kannst du den hellen Mittelstrich erkennen. Und den weißen Rand. Die langen Haare auf der Oberfläche siehst du erst, wenn du dich hinunterbückst. Genau schaust. Oder daheim die Fotos betrachtest.
Schirmflieger
Alles ist hier später dran. Löwenzahnköpfe zum Satt-Essen. Aber auch viele verblüht. Kleine, braune Samen, die an weißen Schirmchen über die Wiese fliegen. Vom Luftstrom nach oben gezogen werden und weitertanzen.
Frech mischt sich der Ehrenpreis unter die Frauenmantelblüten. Strahlendes Blau gegen unscheinbares Hellgrün. Die Kuhglocken klingen noch lange nach, wenn ihre Träger schon längst außer Sicht sind.
Nudelei
Ich hocke mich zwischen Löwenzahn, Spitz- und Breitwegerich und Unmengen von Taubnesseln nieder. Einen Stängel nach dem anderen zupf ich so weit unten wie möglich ab. Weg mit dem Kopf. Der kommt in den Mund. Oder in eins meiner Joghurtküberl, mit denen mich immer eine liebe Freundin versorgt. Die hohlen Stiele werden schön gebündelt in die Tasche gelegt. Nudeln mit nur einer Zutat: Löwenzahn.
Hast du schon einmal Löwenzahnnudeln probiert?
Einen Wiesenabschnitt nach dem andern nehm ich mir vor. Ich will ja keine kahlgerupften Stellen hinterlassen. Immer nur soviel sammeln, dass es kaum auffällt. Meine nackten Füße umschiffen gekonnt die vielen Bienen, die sich am Nektar laben und den orangen Löwenzahnpollen an ihren Beinen sammeln.
Heinrich
Und da steht er. Treu wie jedes Jahr. Der Gute Heinrich. Meine Lieblingspflanze. Zumindest hier und heute. Kleine und größere Gruppen. Überall auf der Weide verteilt. Mit hochgereckten Blütenrispen. Langgezogener Broccoli.
Solange das Vieh noch nicht auf der Hochweide ist, kann ich bedenkenlos sammeln. Neun Monate Sonne, Regen und Schnee. Alpiner Winter. Das hat die Parasiten ausgemerzt, die die Kühe eventuell hinterlassen haben. Und bis sie auf dieser Höhe weiden dürfen, haben sie sich ohnehin schon wochenlang nur von Gras und Wildkräutern ernährt. Das beste Futter überhaupt.
Arbeitsreich
Andächtig knie ich mich hin. Nur für kurze Zeit und nur hier in der Höhe kann ich noch solche Massen finden. Wunderbares Wildgemüse, das früher auch in Gärten angebaut wurde. Völlig unkompliziert. Und doch musste es dem Kulturgemüse weichen. Den empfindlichen Pflanzen, die gehätschelt und gepflegt werden wollen. Gedüngt, aufgebunden und vor Regen und Wind geschützt. Viel Arbeit für den Gärtner. Mit dem Heinrich hätte er die nicht.
Pfeilspitzen
Siehst du es? Die weichen Blättchen sind wie Pfeilspitzen geformt. Manche erinnern mich auch an die Papierfrösche, die ich gerne falte. Nimm sie in die Hand! Sie fühlen sich an, als wären sie voller Sand. Die ersten paar Mal hab ich sie gewaschen und mich gefragt, wo wohl der Schmutz herkommt, wenn rundherum alle Pflanzen sauber sind. Und doch war der Staub nach dem Waschen immer noch drauf. Ist an den Händen kleben geblieben. Und an allem, was ich damit berührt hab. Schon lang weiß ich es besser. Eines seiner typischen Kennzeichen: Mehlstaub auf den Blättern.
Da lass ich die üppig wachsenden Taubnesseln zu seinen Füßen stehen. Hab nur mehr Augen für ihn. Was ich in den zwei noch leeren Taschen nach oben trage, das soll nur mehr Guter Heinrich sein.
Wieder nix!
Wieder nichts mit Gipfel. Oder wenigstens Bergstation. Die Riemen der gut gefüllten Beutel schneiden mir ganz schön in die Schultern, als ich die nächsten 300 Höhenmeter bergauf geh. Fünf sind es diesmal. Zwei voll mit Heinrich. Der Rest schon mit Wiesen-Bärenklau und Wald-Engelwurz gefüllt. Mit Löwenzahnstängeln, -knospen und abgetrennten Köpfen. Mit Breitwegerich, Frauenmantel und Margeriten. Teils 700 Höhenmeter schleppe ich sie schon mit. Bei dieser Gluthitze eine Herausforderung. Auch wenn es mit meinen nackten Füßen auf dem feuchten Gras sicher kühler ist, als mit Schuhen.
Spitzkantig
Am unangenehmsten ist immer der Platz vor der Station. Scharfkantiger Schotter, Glasscherben dazwischen. Das spitz gezähnte Metallgitter vor dem Eingang, das Schnee und Schmutz von den Schuhen streifen soll. Ich spiegle mich in der Fensterreihe der Garage, in der die Pistenraupen auf ihren winterlichen Einsatz warten. Freu mich über meine gute Ernte, die auf allen Seiten von mir absteht. Und dann flieg ich mit der Bahn nach unten. Über die Wiesen, die mir so einen reichen Segen beschert haben.
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