Bergab

🌞 2.8.2024
Verschwunden
Das Tal unter mir ist verschwunden. Verborgen unter einer wabernden Wolkendecke, die nur die felsigen Gipfel freigibt. Ein weißes Meer, das die ganze Stadt verschlungen hat. Kein Lärm dringt nach oben. Friedliche Stille mit Vogelgezwitscher und idyllischem Kuhglockengeläut.
Schmal und steinig ist der Weg nach unten. Grünerlen neigen sich über den feuchten Hang. Nicht Bäume sind sie wie Schwarz- und Grauerle, sondern Sträucher mit biegsamen Stämmen. Niedergedrückt von der Scheelast, die in dieser Höhe oft noch bis in den Juni hinein liegt. Ihre Zäpfchen lassen schon erste braune Schuppen erkennen. In den Blättern die Spuren von gefräßigen Schmetterlingsraupen
Alpenlattich steht davor mit seinen violetten Büschelblüten. Gämswurz und Meisterwurz, unzählige gelbe Sonnen an verzweigten Stängeln und weiße Dolden an groben, gerippten Stielen. Neugierig lugen die Blüten der Sternmiere aus ihrem saftigen Grün hervor. Essbar wie die Vogelmiere ist sie, doch lang nicht so wohlschmeckend und zart. Hast du sie schon einmal probiert?
Der Bachlauf ist gesäumt von Bitterem Schaumkraut. Ein Büschel nehm ich mit als Würze für den Salat. Riesige Felder von Kahlem Alpendost, die Blätter bis dreißig Zentimeter breit. Teils ist der Steig überflutet. Immer noch sickert Wasser aus dem regengesättigten Hang. Frauenmantel, Goldrute und Glockenblume gedeihen prächtig in der nassen Erde.
Nussknacker
Ich tauche ein in den Hochwald. Lange kahle Stämme mit kleingeschuppter Rinde. Fast wie die der Fichten sehen sie aus. Ganz anders als die großen Borkenplatten der Waldkiefer, die weiter unten wächst. Über mir nichts als Zirbenwipfel. Dazwischen Flecken von Himmelsblau. Am Boden die blauen Zapfen. Frisch abgefallen mit glänzenden Schuppen. Oder angenagt und mit Nadeln bedeckt, die an den dicken Harztropfen kleben geblieben sind. Häufchen mit Samenschalen, wohl von Hähern geknackt. Keckernd sitzen sie in den Bäumen ringsum und beschweren sich über mein Eindringen.
Und doch packe ich meinen Beutel aus. Braungefleckt und nicht mehr sauber zu kriegen von Jahren des Tschurtschensammelns darin. Jede einzelne begutachte ich. Ob sie wohl noch frisch ist? Zum Saftmachen geeignet?
Saisonende ist‘s. Hart an der Grenze. Zwar sind die Nüsse noch weiß, doch schon beginnt sich ihre Schale zu härten. Verschwindet der rote Ring in den Scheiben, der den Sirup färbt. Reife Zapfen sind zwar duftend und wunderschön, aber unnütze Last, die ich ins Tal trage.
Verklebt
Bald sind beide Hände verpickt. Trinken möcht ich. Doch so kann ich den Rucksack nicht öffnen, die Flasche nicht berühren. Hast du schon einmal Zirbentschurtschen gesammelt? Ohne klebrig zu werden geht es nicht.
Mit den Spitzen der kleinen Finger angle ich nach der Lippencreme im Hosensack. Zwischen den Handflachen drehe ich die Dose auf, entnehme einen Batzen und reibe meine Hände damit ein. Öl braucht es, um Harz zu aufzulösen. Und meine Creme besteht aus Kokosöl. Wenn auch mit Honig verfeinert und mit Bienenwachs gefestigt. Und selbstgemacht natürlich.
Was für eine Wohltat, als die Haut wieder glatt und geschmeidig ist! Noch das schmutzige Fett in eine der Baumwolltaschen gewischt, und endlich kann ich meinen Durst stillen.
Schlängelei
Das Gewicht reicht für heute. Heraus aus dem Wald und zurück zum Pfad, der sich über die Bergflanke nach unten schlängelt. Arnika strahlt mir entgegen. Und wieder Lattich und Meisterwurz. Bald wate ich hüfthoch durch dichten Farn. Gelegentlich bleibe ich stehen und ziehe mit dem Daumen an den Riemen meines Rucksacks um meine Schultern zu entlasten.
Der Pfad unter meinen Füssen hat sich in ein schlammiges Rinnsal verwandelt, das in den rauschenden Gebirgsbach mündet. Zwei abgehackte Baumstämme liegen quer im Bachbett und sichern den Übergang auf den schmalen Steig auf der anderen Seite. Hier ändert sich auch die Vegetation. Das Gelände wird wieder offener, freier. Zu den Zirben gesellen sich Lärchen und Fichten. Zwischen Farnwedeln tummeln sich junge Vogelbeersträucher im hohen Gras. Der Nebel im Tal hat sich gehoben und gibt den Blick auf die Häuser wieder frei.
Chai
Zügig trage ich meine Last nach unten. Bleib auf dem Weg, damit es schneller geht. Viel hab ich heute noch vor. Die Tschurtschen wollen so schnell wie möglich verarbeitet werden. Bevor sie noch mehr austrocknen. Zutaten abwiegen, schneiden und alles wieder vom klebrigen Harz befreien, das braucht Zeit.
Ein paar Bachüberquerungen weiter bin ich schon auf dem Forstweg. Von Weidenröschen ist er gesäumt, an denen unter den rosa Blüten schon die ersten Samenkapseln reifen. Auch da greif ich wieder zu. Noch eine Ladung Ivan Chai soll es werden. Der fermentierte russische Tee, der auch in Europa populär war, bevor ihn der billigere Schwarztee aus Indien verdrängt hat. Langeweile kommt bei mir keine auf während der Erntezeit. Und bei dir?
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