liliput

10 April 2023
Rückzug
Im Tal ist schon alles grün. Nur die Berggipfel leuchten noch weiß vor dem strahlendblauen Himmel. Vorgestern hat es wieder geschneit. Und nachts sinken die Temperaturen immer noch unter Null. Doch der Frühling ist auch hier heroben, auf 1.700 Höhenmetern, nicht mehr aufzuhalten. Die Schneedecke weicht immer weiter zurück und macht den Platz für winzige Pflänzchen frei. Vertrocknetes, ausgebleichtes Gras vom Vorjahr, Nadeln und Zapfen der umliegenden Bäume liegen am Boden. Doch dazwischen zeigt sich frisches Grün, Rot, Weiß und Violett.
Gulliver in Liliput
Ich knie nieder und betrachte voller Freude diese Zeichen des aufkeimenden Frühlings. Wie Gulliver in Liliput fühle ich mich, als ich ein Pflänzchen nach dem anderen zwischen meinen Fingern messe. Körbeweise habe ich unten im Tal schon Löwenzahn, Knoblauchsrauke, Labkraut und Vogelmiere geerntet. Aber diesen zarten Winzlingen will ich nicht einmal ein Blättchen wegnehmen. Bewundernswert ist ihre Kraft, mit der sie eng an den Boden geschmiegt Wind und Kälte trotzen. Der Günsel in seinem flauschigen Mantel. Das Gänseblümchen, dessen Blätter und Stiele von einem zarten Flaum bedeckt sind. Genauso wie beim Breitwegerich und dem Kleinen Habichtskraut. Aber auch die fein gefiederte Schafgarbe, der Löwenzahn und der Weißklee gedeihen trotz dieser widrigen Bedingungen. Auch wenn kein schützendes Haarkleid ihre Blätter bedeckt.
⇒ Wachsen bei dir zuhause auch solche Winzlinge aus dem Boden?
Endlich Heinrich
Sosehr ich mich auch über jedes Pflänzchen freue: Etwas fehlt mir noch. Die eine Pflanze, nach der ich jedes Mal, wenn ich hier auf den Berg komme, Ausschau halte. Also wandere ich weiter. Die Augen auf den Boden geheftet, damit mir ja nichts entgeht. Krokusse in Weiß und Violett mit gelben Staubblättern und orangen Narben, die aus ihren Kelchen leuchten, erfreuen mein Auge. Doch sie sind es nicht, nach denen ich suche. Auch nicht die silbriggrauen Flechten und der stumpfgrüne Baumbart, die von Schnee und Wind auf den Boden gefegt worden sind. Irgendwo hier habe ich doch noch im Herbst die letzten Blütenstände geknabbert. Hab ich ein paar Samen abgestreift in der Hoffnung, dass sie im Frühling auf meinem Balkon auskeimen. Oder im Garten meiner Freundin, die zu jedem wilden Experiment bereit ist.
Und endlich entdecke ich sie. Wie kleine Pfeilspitzen ragen die Blättchen aus der Erde. Noch viele Wochen wird es dauern, bis sie groß und saftig sind und ich sie ernten kann. Wenn mir nicht ein anderer zuvorkommt. Der Gute Heinrich. So selten ist er geworden. Ich kenne niemanden, der ihn in seinem Garten kultiviert. Obwohl er so köstlich schmeckt. Die knospigen Blütenstände sind eine besondere Delikatesse. Schon der bloße Gedanke daran lässt mir das Wasser im Mund zusammenrinnen. Aber wie heißt es so schön? Vorfreude ist die schönste Freude.
⇒ Hast du schon einmal vom guten Heinrich gekostet? Findest du ihn auch so köstlich wie ich?
Im Reich der Zirben
Jetzt bin ich zufrieden. Für meine herbstlichen Mahlzeiten ist gesorgt. Ich stehe auf und klopfe mir die Erde von meinen Knien. Dann nehme ich meine Stöcke und wandere weiter. Die Wintersaison am Patscherkofel ist zu Ende. Heute fährt die Bahn zum letzten Mal und ich möchte sie nutzen, um bequem ins Tal zu kommen. Schon bald ist alles um mich herum wieder weiß. Kurzärmlig stapfe ich durch eine Allee von Zirben durch den sulzigen Schnee der Bergstation zu.