Leben im Fels

1. Mai 2023
Welche Route?
Ein strahlend blauer Himmel sieht anders aus. Aber ich bin ohnehin viel zu spät dran. Und in der Mittagszeit auf dem Nordhang ist es bei Sonnenschein kaum auszuhalten. Ich stehe an der Bushaltestelle. Zwischen zwei Häusern hindurch sehe ich die Nordkette. Hungerburg, Seegrube, Hafelekar. Da will ich heut hinauf. Nicht von ganz unten weg, und auch nicht bis ganz oben. Der mittlere Teil genügt mir. Es sind immerhin auch 1. 050 Höhenmeter. Während ich auf die Straßenbahn warte, suche ich mir die heutige Route aus. Alles ist klar zu erkennen. Die Stützen der Seilbahn und des Sessellifts stehen auf braunem Grund. Also ist der Steig darunter aper. In den Schleifen der Forststraße weiter oben liegt dagegen noch Schnee. Von dort zieht er sich bis zum Grat hinauf. Und in der schattigen Senke auf der Seegrube wird er sowieso noch lange liegen. Deshalb hab ich auch die festen Schuhe angezogen. Denn mit knöcheltiefem Einsinken kann ich da mindestens noch rechnen. Und das ist zu viel für meine Barfußschuhe.
Felsnischen
Eigentlich wollte ich ja auf dem Liftsteig bleiben. Aber einen kleinen Umweg mach ich doch. Nur ein Stück auf der Forststraße. Denn ich habe Hunger. Und hier im Kalkgestein der Nordkette ist jede Felsnische besetzt. In der einen sitzt winziger Alpen-Frauenmantel. In der nächsten der Kleine Wiesenknopf. Immer wieder lacht mich der Dreiblättrige-Baldrian auf Augenhöhe an. Auch Leberblümchen in weiß, rosa, lila und violett. Aber die sind natürlich reiner Augenschmaus und nicht essbar. Ganz im Gegensatz zu den vielen jungen Erdbeerblättern. Der winzigen Krüppelfichte lass ich all ihre Nadeln. Die hol ich mir später von größeren Exemplaren.
Liftsteig
Hier heroben hinkt die Natur ein bisschen hinten nach. Sogar die Weiden blühen noch. Rund um den Sesselliftsteig ist der Hang voller Silberdisteln. Sie stehen unter Naturschutz, denn ihr Bestand ist stark gefährdet. Aber nicht hier. Jetzt im Frühjahr beginnen sich die Samenstände vom Vorjahr langsam aufzulösen. Jeder Windstoß hebt eine neue Wolke von flauschigen Samenschirmchen in die Höhe und trägt sie mit fort.
⇒ Wie steht es um den Bestand der Silberdisteln in deiner Nähe?
Weit hab ich nicht mehr. Unter dem grauen Wolkendach seh ich schon die Seegrubenstation vor mir. Schön langsam wird es barfuß ungemütlich. Ich trockne meine Füße ab und schlüpfe wieder in die Schuhe. Das letzte Stück geht es wirklich durch den Schnee. Patzig nass ist er und rinnt oben in die Schuhe. Doch ich werde gleich mit dem wunderbaren Ausblick über das Inntal und die gegenüberliegende Bergkette belohnt.